Frank Teichmann - Die Lehre vom dreifachen Schriftsinn
Heute sind vielen Menschen moralische Werte unverständlich. Obgleich man bemerkt, dass die verschiedenen Gesellschaftsformen kulturell zunehmend verrohen, hält man an der Mei-nung fest, Ethik sei eine reine Glaubenssache. Ethikunterricht soll an den Bildungsstätten die Religion ersetzen. Verständlich im Sinne mechanistischer Logik sind ethische Werte sicher nicht. Aber reicht die amerikanische Erfindung von neuer Innerlichkeit an das heran, was un-sere Kultur geprägt hat? Wird hier nicht ein alter Glaube gegen einen fadenscheinigen neuen ausgetauscht, anstatt die Intention des Alten mit Erkenntnis zu durchdringen? Frank Teichmann zeigt als Bindeglied einen Übungsweg zum Lernen, mit alten und sinn-vollerweise auch mit neuen Texten umzugehen. Der Verstand bleibt wach: Es ist seine Auf-gabe die Methoden der unterschiedlichen Betrachtungsebenen auseinanderzuhalten. Gelingt dies, bemerkt der Übende in sich Denkqualitäten, die vorher mehr eine Art unbeobachteter Einheitsbrei waren und ein altbekannter Zugang zu den Überlieferungen bringt diese in ihrer wahrhaftigen Schönheit zu Tage... Leseprobe: Diese Lehre vom dreifachen Schriftsinn wurde von Origenes zunächst an einigen einfachen Beispielen demonstriert, ohne die Methodik jedoch schon voll zu entwickeln. Das geschah erst später, als sie insbesondere durch die Chartreser Lehrer eine umfassende Ausgestaltung und Anwendung erfuhr. Wenn im Prolog zum ‚Anticlaudian’ von Alanus ab Insulis hervorge-hoben wird, dass diejenigen, „die noch in den Wiegen der unteren Disziplinen quäken und noch die Brustmilch des Säuglings genießen“, es ja nicht wagen dürften, dieses Werk zu ver-schmähen, und „auch diejenigen sollten sich nicht unterfangen, es abzulehnen, die dem Dienst höherer Wissenschaft als Rekruten verpflichtet sind“, ja sogar „auch die brauchten dieses Werk nicht anmaßend herabzusetzen, die schon mit ihrem Scheitel an den Himmel der Philo-sophie rühren“, dann bezieht er sich für den Kenner auf die drei von Origenes genannten Sinnschichten. „Denn in ihm dem ‚Anticlaudian’ wird die Lieblichkeit des buchstäblichen Sinnes dem Ohr des Knaben gefallen, die moralische Unterweisung wird den Fortgeschritte-nen belehren, und die schärfere Feinheit des bedeutungsvollen Bildes wird den sich vollen-denden Intellekt schärfen.“ „Denjenigen,“, so setzt Alanus fort, „die nur den buchstäblichen Sinn entziffern“ könnten, würde dabei das eigentliche Geheimnis verborgen bleiben: Sie wür-den es nicht entdecken. Nur Würdige, das heißt, diejenigen, die schon fortgeschritten sind und sich schon lange geschult haben, könnten sich durch den Text zur Schau der überhimmlischen Formen erheben. Da dieser Inhalt aber nicht buchstäblich dastand, mussten sie zwischen den Zeilen lesen lernen. Wie konnte sich das ereignen und was hat man im Einzelnen unter den Sinnschichten verstanden? |