DAS MÄRZ - VEILCHEN

Das Schöne berührt uns immer in besonderer Weise. Es löst uns etwas aus dem Alltäglich-Gewohnten. Jeder kennt diese Erfahrung. Was ihr zugrunde liegt, ist aber nicht leicht zu sagen. Es gibt zwei Reiche des Schönen: die Kunst und die Natur. So sollte jeder, der die Natur verstehen will, sich bemühen, dem Rätsel des Schönen nachzuspüren. Man kann sich dabei an einer Bemerkung Goethes orientieren. \\\"Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selbst zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist als die Natur selber.\\\" Die Schönheit einer Rose ist eine andere als die der Eiche, die einer Wolkenformation eine andere als die eines von Bäumen umrahmten Sees. Immer aber empfindet man etwas wie den Glanz aus einer verborgenen Welt.

Diese Auffassung findet man seit der Antike in den verschiedensten Formulierungen. So schreibt Hugo von St. Viktor in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: \\\"Unsere Seele kann nicht direkt zur Wahrheit des Unsichtbaren aufsteigen, es sei denn, sie wäre durch die Betrachtung des Sichtbaren geschult, und zwar so, dass sie in dem Sichtbaren Sinnbilder der unsichtbaren Schönheit erkennt. Da nun aber die Schönheit der sichtbaren Dinge in ihren Formen gegeben ist, lässt sich entsprechend aus den sichtbaren Formen die unsichtbare Schönheit beweisen, weil die sichtbare Schönheit das Abbild der unsichtbaren Schönheit ist.\\\"
Das Schöne hat für den Menschen offenbar eine zweifache Bedeutung. Indem wir es genießen und bewundern, belebt es unser Inneres. Wenn uns aber bewusst wird, dass sich in der Schönheit durch die sinnliche Erscheinung ein unsichtbar Wesenhaftes äußert, dann kann die Ahnung dieses Wesenhaften zum Antrieb werden, es in voller Klarheit kennen lernen zu wollen.

Die Schönheit der Natur ist im Frühling eine andere als im Sommer und Herbst. Wenn sich an der Erde und im Gezweig der Büsche durch die wärmende Wirkung der Sonne die Knospen öffnen und das zarte Grün aus der trockenen Hülle hervordringt, dann verbindet sich das Leben der Erde wieder neu mit dem Kosmos. Dieses «Erwachen» des Lebens ist nicht nur Anfang eines Geschehens, das dann im Sommer mit der Fülle des Blühens seinen Höhepunkt erreicht. Es birgt auch eine eigene Qualität. Denn schon im März und April kommt es zu einem ersten Blühen. In den noch lichten Wäldern findet man den Gelbstern (Gagea lutea) und den Blaustern (Scilla bifolia), das Leberblümchen (Anemone hepatica), das Buschwindröschen (Anemone nemorosa) und das Lungenkraut (Pulmonaria officinalis); dort, wo es etwas feuchter ist, das Gelbe Windröschen (Anemone ranunculoides). Im Gebüsch, auf Wiesen und im lichten Wald blühen Primeln (Primula elatior, Primula officinalis), auf feuchten Wiesen und...